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Peira Medieninformation: Die Straße als Ort des Erinnerns / Ein Gastbeitrag von Petra T. Fritsche für Peira – Gesellschaft für politisches Wagnis

(LNP) Ein Spaziergang durch eine kleine Straße in Friedenau kann eine neue Gedenkkultur, die durch Gunter Demnigs Kunstwerk und Geschichtsprojekt Stolperstein Raum gewonnen hat, deutlich machen: Stolpersteine für die Opfer des Nazi-Terrors werden seit 1995 vom Kölner Künstler Gunter Demnig verlegt. Die Steine sollen die Erinnerung an die rassisch und politisch Verfolgten und Ermordeten aufrechterhalten. Sie erinnern an die Opfer des NS-Regimes: Juden, Sinti und Roma, Kommunisten, Sozialdemokraten, Widerstandskämpfer, Gewerkschafter, Homosexuelle und psychisch Kranke. Bisher wurden in Europa mehr als 40.000 Steine gelegt, in Berlin 5.000.

Das Stolpersteinprojekt wird getragen von der Zivilgesellschaft und ist basisdemokratisch organisiert. Nachbarn, Hausbewohner, Angehörige initiieren die Verlegung eines Steins oder mehrerer Steine vor dem Haus, in dem Menschen vor ihrer Deportation und Ermordung gelebt oder gearbeitet hatten.
Eine unmenschliche Bürokratie hatte sie zu Nummern degradiert, die ihre Namen auslöschen wollte. Durch die Stolpersteine soll diesen Menschen ihr Name, ihre Identität, ihre Würde zurückgegeben und die Erinnerung an sie wach gehalten werden. Denn ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist. Oder wie ein jüdisches Sprichwort sagt: Ein Mensch, dessen Name vergessen wird, stirbt zum zweiten Mal. Dadurch, dass die Steine im öffentlichen Raum vor den Wohnhäusern verlegt werden und wir auf unserem Weg über die Namen „stolpern“, wird die Erinnerung in unseren Alltag einbezogen.

Die Verlegung der Stolpersteine und die Übergabe der Steine an die Öffentlichkeit ist das Ergebnis einer Suche nach den Lebensspuren der deportierten und ermordeten Nachbarn.
Auf den Stolpersteinen selbst sind die Worte: HIER WOHNTE, der jeweilige Name, das Geburtsjahr und das Deportationsdatum, der Todesort sowie das Todesdatum eingraviert.1 Mehr Platz ist nicht vorhanden. Manchmal ist auch mehr Information über die Menschen nicht zu finden: Adressbücher, Karteikarten, Gedenkblätter, Transportlisten beinhalten meist nicht mehr als eben diese Daten. Der Gang in die Archive ist dann erfolgreich, wenn der deportierte Mensch Verwandte, Ehepartner oder auch Geschäftspartner hatte, die sich nach dem Krieg an die Ämter wandten und aus deren Korrespondenz, die sich oft Jahre oder sogar Jahrzehnte hinzog, die Lebensumstände der Verfolgten entnommen werden können. Wenn es viel Archivmaterial gibt, oder dann, wenn man Kontakt zu Verwandten bekommt, erfährt man, was die Person einmal von Beruf war, was sie besaß, wen sie hinterließ, was den Verwandten zustieß; und manchmal auch, was das für ein Mensch war, was er vielleicht anstrebte oder sich gar erträumte – oder auch einfach, was er las, hörte oder welche Freunde und Talente er hatte.

Ein Spaziergang durch die Stierstraße in Friedenau macht auch die Veränderung der Fassaden und des Straßenbildes im Vergleich zu den dreißiger und vierziger Jahren deutlich. Die Stadtstruktur ist ein sozialer Körper; das kollektive Gedächtnis bewegt sich innerhalb dieses räumlichen Rahmens. Nur der Raum – oder die Vorstellung von einem Raum – gibt uns die Möglichkeit, uns zu erinnern. Eine Straße mit ihren Häusern erinnert uns an Geschmack und Bauweise der Zeit ihrer Entstehung und lässt darauf schließen, welcher sozialen Schicht die Bewohner angehörten. Wenn in einer Straße Baulücken vorhanden sind, schlichte Neubauten der fünfziger und sechziger Jahre zwischen Altbauten mit Jugendstilfassaden stehen, oder wenn die Bürgerhäuser ihre mit Stuck und Ornamenten verzierten Fassaden verloren haben, dann wissen wir, welche Erschütterungen in welcher Zeit diese Verknappung unseres sozialen (Stadt-)Körpers bewirkt haben.

Die Stolpersteine erinnern uns an Menschen, die hier wohnten und die von hier aus deportiert oder hier in ihren Wohnungen verhaftet wurden und nicht mehr zurückkehrten. Liest man die Daten auf den Steinen, weiß man, dass die meisten dieser in weit entfernten Lagern ermordeten Menschen schon alt waren und fragt sich vielleicht auch, wem es wohl gelungen war, zu fliehen. Wenn man über die Geflohenen erfährt, was das für entschlossene, mutige Künstler und hoffnungsvolle Talente waren – die meist ebenfalls nicht zurückkehrten, weil sie hier nicht willkommen waren oder in der Emigration verarmten oder starben, dann wird man sich der zerstörten Vielfalt bewusst. Die Straße ist dann der Ort, der auf verschiedene Weise spricht und zu Erinnerung – auch zu Trauer – den Raum bietet.

Kontakt:
Peira – Gesellschaft für politisches Wagnis e. V.
Rainer Thiem
Bundesallee 119
12161 Berlin
Email: rainer.thiem@peira.org
Internet: http://www.peira.org

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