(lnp) Uni Tübingen: Großhirnrinde lernt schneller als gedacht. Tübinger Forscher machen Gedächtnisspuren beim Menschen sichtbar.
An der Speicherung von Informationen im Gehirn ist die Großhirnrinde offenbar deutlich früher und stärker beteiligt als von der Wissenschaft bislang angenommen. Ein Forschungsteam der Universität Tübingen und des Tübinger Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik um Svenja Brodt, Professor Steffen Gais und Dr. Monika Schönauer konnte mit hochauflösenden bildgebenden Verfahren nachweisen, dass die Großhirnrinde schon früh bei Lernvorgängen hinzugezogen wird. Damit muss das Modell revidiert werden, nach dem dieser Bereich des Gehirns nur langsam lernt. Die Studie der Tübinger Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler wurde im Fachjournal Science veröffentlicht.
Seit Jahrhunderten sind Forscher dem Gedächtnis auf der Spur – und dies im wahrsten Sinne des Wortes. Denn die Prozesse, die bei der Bildung einer Gedächtnisspur ablaufen, blieben lange Zeit unaufgeklärt. Traditionelle Modelle gehen davon aus, dass es im Gehirn zwei Gedächtnissysteme gibt: zum einen den Hippocampus, der große Informationsmengen schnell aufnimmt, und zum anderen die Großhirnrinde, in der sich Gedächtnisspuren, also dauerhafte Änderungen durch Speicherung und Festigung neuer Informationen nur langsam, aber stabil entwickeln.
Untersuchung der physischen Spuren des Lernens
In der neuen Studie stellten die Wissenschaftler ihren Probanden eine Lernaufgabe, in der sie sich in mehreren Runden Objektpaare und deren räumliche Anordnung auf einem Bildschirm einprägen mussten, ähnlich wie bei dem Gesellschaftsspiel „Memory“. Während sie diese Aufgabe ausführten, wurde ihre Gehirnaktivität in einem Magnetresonanztomografen (MRT) aufgezeichnet. Zusätzlich führten die Wissenschaftler eine spezielle Messung durch, die die Feinstruktur des Gewebes abbildet. Sie setzten dabei den sogenannten Diffusions-MRT ein, bei dem die Stärke der Bewegung von Wassermolekülen im Gehirn quantitativ dargestellt wird. Da die Wasserbewegungen durch Zellmembranen eingeschränkt werden, erhalten die Wissenschaftler aus dem Bewegungsbild im Rückschluss detaillierte Informationen über die Gewebestruktur. Die Messungen wurden zu drei Zeitpunkten durchgeführt: unmittelbar vor der Lernaufgabe, 90 Minuten und zwölf Stunden danach. „Durch den Vergleich der Diffusionsaufnahmen vor und nach dem Lernen mit einer Kontrollbedingung können wir Rückschlüsse auf kleinste Veränderungen in der Gewebestruktur ziehen, die durch den Lernvorgang verursacht wurden“, erklärt Svenja Brodt, die Erstautorin der Studie. Dadurch ließen sich Gedächtnisspuren auch später noch im inaktiven Zustand beobachten, nachdem die Lernaufgabe abgeschlossen ist.
„Wir bewegen uns weg von reinen Momentaufnahmen, die während des Aufnehmens oder Abrufens von Informationen durch funktionelle Magnetresonanztomografie gemacht werden können, hin zur Untersuchung der physischen Spuren, die die Speicherung von Informationen in unserem Gehirn hinterlässt“, so Brodt. Mithilfe der Diffusionsbildgebung konnten die Forscher bereits 90 Minuten nach dem Lernprozess strukturelle Veränderungen in der Großhirnrinde messen und zwar in genau jenen Regionen, die während der Lernaufgabe starke gedächtnisbezogene Aktivität gezeigt hatten. Die größten Veränderungen zeigte der hintere Teil des Scheitellappens, der posteriore Parietalkortex. Je stärker diese Veränderungen waren, desto besser konnten sich die Probanden die Objektpaare langfristig merken.
Stabile Veränderungen in der Großhirnrinde
„Diese Strukturveränderungen sind kein kurzfristiges Nebenprodukt einer erhöhten Zellaktivität während des Lernens, da sie über mindestens zwölf Stunden stabil bleiben“, sagt die Studienleiterin Monika Schönauer. Aus Studien an Tieren wisse man, dass diese Veränderungen mit Prozessen einhergehen, die direkt mit einer Verstärkung der Schaltstellen zwischen Nervenzellen zusammenhängen, den sogenannten synaptischen Verbindungen. „Unsere Ergebnisse bestätigen, dass die Großhirnrinde schon früh im Lernvorgang hinzugezogen wird, und unmittelbar an der physischen Speicherung der Informationen beteiligt ist“, sagt Schönauer. „Die frühere Annahme, dass die Großhirnrinde nur langsam lernt, ist nun nicht mehr haltbar.“
Steffen Gais, der Leiter der Arbeitsgruppe, setzt hinzu: „Unsere Befunde der letzten Jahre haben große Bedeutung für die Weiterentwicklung der gängigen Theorien zur Gedächtnisbildung.“ Die neuen Erkenntnisse böten eine Erklärung dafür, dass es selbst Patienten mit Schädigungen im Hippocampus teilweise möglich ist, neue Informationen zu lernen und zu behalten. Die weitere Erforschung der Bedingungen, unter denen Informationen direkt in der Großhirnrinde gespeichert werden, könne langfristig zur Entwicklung von neuen Lernstrategien bei bestimmten Gedächtnisstörungen beitragen.
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Quelle: Pressemitteilung Universität Tübingen vom 30.11.2018
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