Neue Forschungen zur Neurowissenschaft
Wenig soziale Kontakte, kaum kognitive Anreize, schlechte Hygiene und Ernährung – das hat Folgen bis ins Erwachsenenalter.
(lnp) Erwachsene, die als Kinder aus rumänischen Heimen adoptiert wurden, haben kleinere Gehirne als Adoptierte, die keine vergleichbare Vernachlässigung im Kindesalter erfahren haben. Je mehr Zeit die Kinder im Heim verbracht hatten, desto geringer war ihr Gehirnvolumen später. Das berichtet ein internationales Forschungsteam unter Federführung des King’s College London in der Zeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences, kurz PNAS, vom 6. Januar 2020. An der Arbeit beteiligt war auch Prof. Dr. Robert Kumsta von der Ruhr-Universität Bochum.
Mithilfe der Magnetresonanztomografie erfassten die Forscherinnen und Forscher das Gehirnvolumen von 67 Erwachsenen im Alter zwischen 23 und 28 Jahren, die in rumänischen Kinderheimen aufgewachsen waren. Dort waren sie stark vernachlässigt worden, bevor sie in englische Familien adoptiert worden waren. Die Daten verglichen die Wissenschaftler mit denen von 21 englischen Adoptierten ohne Heimerfahrung.
Volumen des Gehirns nimmt mit jedem Monat ab
Die Gehirne der rumänischen Adoptierten waren durchschnittlich 8,6 Prozent kleiner als die der Kontrollgruppe. Je länger die Heimerfahrung war, desto kleiner war auch das Gehirnvolumen: Jeder zusätzliche Monat in der Institution ließ das Gehirn um drei Kubikzentimeter schrumpfen, was 0,27 Prozent des Gesamtvolumens entspricht. Diese Veränderungen gingen mit einem verminderten IQ und vermehrten ADHS-Symptomen einher.
Die Forscher schlossen aus, dass das verminderte Volumen mit dem Ernährungszustand, der Körpergröße oder einer genetischen Prädisposition für ein kleineres Gehirn zusammenhing.
Schlechte Bedingungen in Heimen
Die Studie war Teil der English and Romanian Adoptees Study, die 1990 kurz nach dem Sturz des kommunistischen Regimes in Rumänien begann. Die Kinder kamen im Alter von wenigen Wochen in die Heime, wo sie unter extrem schlechten hygienischen Bedingungen lebten, wenig zu essen hatten, kaum persönliche Fürsorge erfuhren und selten soziale oder kognitive Anreize bekamen. Sie verbrachten zwischen drei und 41 Monaten dort. Frühere Ergebnisse hatten bereits Langzeitfolgen für die psychische Gesundheit offengelegt: https://news.rub.de/presseinformationen/wissenschaft/2017-02-23-psychologie-vernachlaessigung-im-kindesalter-beeintraechtigt-psychische-gesundheit. Die aktuelle Studie untersuchte nun erstmals, wie sich schwere Vernachlässigung im Kindesalter auf die Gehirnstruktur auswirkt.
Kompensation möglich
Die Veränderungen traten vor allem in drei Hirnregionen zutage, die wichtig für Organisation, Motivation, das Integrieren von Informationen und das Gedächtnis sind. Eine Hirnregion, der rechte inferiore Temporallappen, war bei rumänischen Erwachsenen allerdings größer als bei der Kontrollgruppe, was mit verminderten ADHS-Symptomen einherging. Laut den Forschern ein Zeichen für eine Anpassung, die die negativen Folgen der Vernachlässigung anteilig kompensieren kann. Solche Effekte könnten auch erklären, warum manche Individuen weniger von der Vernachlässigung betroffen zu sein scheinen als andere.
Förderung des Projekts
Die Studie wurde unterstützt von: Medical Research Council (Grant MR/K022474/1), Economic and Social Research Council (Grant RES-062-23-33), National Institute for Health Research (NIHR) Clinical Research Network, NIHR Biomedical Research Centre, Maudsley National Health Service Foundation Trust. Die Erstautorin Dr. Nuria Mackes hat an der RUB Psychologie mit dem Schwerpunkt Kognitive Neurowissenschaften studiert und wurde durch ein Promos-Stipendium unterstützt.
Originalveröffentlichung der Studie
Nuria K. Mackes, Dennis Golm, Sagari Sarkar, Robert Kumsta, Michael Rutter, Graeme Fairchild, Mitul A. Mehta, Edmund J. S. Sonuga-Barke: Early childhood deprivation is associated with alterations in adult brain structure despite subsequent environmental enrichment, 2020, in: Proceedings of the National Academy of Sciences, DOI: 10.1073/pnas.1911264116: https://www.pnas.org/content/early/2020/01/01/1911264116
Kontakt
Prof. Dr. Robert Kumsta
Genetische Psychologie
Fakultät für Psychologie
Ruhr-Universität Bochum
Tel.: 0234 32 22676
E-Mail: robert.kumsta@rub.de
Ruhr-Universität Bochum (RUB)
Dezernat Hochschulkommunikation
Interne Kommunikation und Pressearbeit
UV 0/14
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44801 Bochum
Quelle und Bildquelle: Pressemitteilung Ruhr-Universität Bochum vom 07.01.2020